Manchmal fragen wir uns: Was zieht mich immer so runter? Weshalb bin ich ständig unzufrieden? Warum kann ich mich über nichts mehr freuen? Eigentlich müsste ich doch glücklicher sein mit meinem Leben!
Derlei Symptome sind in einer therapeutischen Praxis natürlich Alltag, da deprimierte Stimmung, Gefühle von Sinnverlust und ganz allgemein schlechte Laune Anzeichen verschiedener seelischer Erkrankungen sein können. Zur Behandlung depressiver Symptomatik steht uns eine ganze Bandbreite an Methoden zur Verfügung. Im therapeutischen Geschehen spielt aber ein besonderer Faktor eine konservierende Rolle und kann die Genesung bzw. den notwendigen gesunden Veränderungsprozess aufhalten.
Um lebendig zu bleiben, muss sich ein System von Zeit zu Zeit anpassen – das ist quasi ein Naturgesetz und gilt für alle Lebewesen, für Einzelpersonen, für Beziehungen, für allgemeine Aspekte einer Gesellschaft wie Lehre, Wirtschaftsleben und Außenorientierung. Während ein System also eine Zeitlang günstig eingestellt ist auf die Umgebungsbedingungen und damit eine relative Stabilität erfährt, ist die Phase der nötigen Weiterentwicklung von Instabilität geprägt, bis die Entwicklung bzw. Anpassung gut abgeschlossen ist und erste Vorteile der Neuausrichtung erlebbar werden.
Diese Übergangszeit kann Angst machen. Menschen sind Gewohnheitstiere und nehmen Veränderungen nur dann in Kauf, wenn sie unaufschiebbar erscheinen und gute Gründe für sie sprechen. Ein guter Grund kann aber auch die Aufrechterhaltung eines alten, ungünstigen Musters sein, um die gewohnte Stabilität und Kontinuität zu erhalten, sogar wenn sich daraus Nachteile schmerzhaft auswirken. Vertraute Bahnen erleben wir nämlich als Sicherheit, die bekanntermaßen zu den Grundbedürfnissen gehört. Wenigstens weiß man dann, was man hat!
Insofern ist jede Veränderung mit einem persönlichen Risiko verbunden: Das Risiko, zu scheitern. Das Risiko, mit dem neuen Verhalten nicht anerkannt zu werden. Das Risiko, angreifbar zu sein. Das Risiko, einen wichtigen alten Persönlichkeitsanteil hinter sich zu lassen, den man intuitiv nicht loslassen will, obwohl er das Leben im Heute mehr stört als bereichert.
Diese Tatsache muss von Therapeut*innen unbedingt berücksichtigt werden. Die Phase des Zögerns, des Bedenkens und des Gefahrenabwägens soll so viel Raum im therapeutischen Prozess haben, den die jeweilige Klient*in braucht. Zu viel gut gemeinte Ungeduld des Therapeuten kann an diesem Punkt zum Therapieabbruch oder zumindest zu Schuld- und Versagensgefühlen führen.
Wird in der Therapie offen darüber gesprochen, dass die Klient*in so viel Zeit hat, wie sie benötigt, bis sie zum ersten Mal (und dann wahrscheinlich immer öfter) ihr altes Muster durchbrechen kann, wird das Vertrauensverhältnis in der therapeutischen Beziehung gestärkt und ein Verständnis dafür geschaffen, dass zentrale seelische Prozesse nicht rein willentlich geschehen können. Es gibt immer einen guten, wenn auch unbewussten Grund, am alten dysfunktionalen Verhalten festzuhalten, da es in aller Regel ein gewohntes Vermeidungsverhalten ist.
Ungünstiges Verhalten hat trotz aller Schwierigkeiten, die es schafft, immer eine wichtige Funktion, sonst würde es sich durch natürliche Lebenserfahrung von selbst legen. Wenn durch ungesunde Verhaltens- oder Gefühlsqualitäten wie Sucht, Angst oder Depression ein größeres Übel (etwa Schmerz, Scham, Schuld, Verlust, Resignation, Enttäuschung oder Kränkung) vermieden werden kann, ist das erst einmal als Lösungsversuch anzuerkennen. Wir nennen diese Art des Vermeidungshandelns auch Kompensationsverhalten.
In der Therapie muss eine attraktive und lohnenswerte Vision entstehen, wie sich das Leben nach der Phase der relativen Instabilität anfühlen wird, wenn die alten depressiven oder Angstgefühle und das dementsprechende Handeln nicht mehr nötig sind. Das motiviert, ein Risiko einzugehen und es sich zuzumuten, sich mit Hilfe des Therapeuten den ursprünglich angstauslösenden Gefühlen und Gedanken zu stellen. Es soll aber auch ehrlich angesprochen werden, dass die Übergangsphase des Umdenkens und Ausprobierens anstrengend oder anfangs frustrierend sein kann. Da erscheint es manchmal sicherer und bequemer, einfach unglücklich zu bleiben.
Nach der herausfordernden Zeit einer persönlichen Weiterentwicklung, verbunden mit einem günstigeren, angemesseneren und gesünderen Verhalten, ist es sehr wahrscheinlich, dass Zufriedenheit und gelegentliche Glücksmomente wieder ins Leben einziehen.